Livigno - Entwicklung eines Dorfes
Betrachtet man das heutige Livigno zu Hauptsaisonzeiten, ist es schwer vorstellbar, wie es noch vor etwa 100 Jahren ausgesehen hat. 1911 hatte Livigno gerade mal 1.143 Einwohner, und das Waldhufendorf war fast ausschließlich auf Landwirtschaft und Viehzucht angewiesen. Die Höhenlage 1.800 bis 2.000 m erlaubte in bescheidenem Umfang den Anbau von Roggen und Gerste sowie eine einzige Heuernte, um das Vieh während der 8 Wintermonate füttern zu können.
Hinzu kam die geographische Isolation, denn die einzige Verbindung mit Italien bestand über Trepalle in der Überwindung des Foscagno-Passes (2.291 m) nach Bormio bzw. – nur im Sommer – des Forcola-Passes (2.315 m), über den Livigno von Tirano über das Schweizerische Puschlavtal erreichbar war und ist. Die meistbenutzte Verbindung – v.a. im Winter – ging damals jedoch über die Gallo-Furt mittels Schlitten ins Engadin (Zernez).
Diese Isolation war ausschlaggebend für die Vergabe des "Zollfrei-Status", der schon lange zurückreicht und zuletzt durch Napoleon (der sich in dieser Gegend – ebenso wie die Spanier – auch mal sehen ließ) bestätigt und schließlich in den EG-Gesetzen zementiert wurde. Man wollte den an sich schon armen Einwohnern Livignos nicht zumuten, für die aus der Schweiz einzuführenden Waren auch noch Zoll zahlen zu müssen.
Die geographische Besonderheit drückt sich auch dadurch aus, dass Livigno das einzige Tal ist, das (über den Spöl, der in Zernez in den Inn mündet) ins Schwarze Meer entwässert, während alle übrigen Gewässer Italiens ins Mittelmeer fließen. Livigno ist ein Hochtal auf der Alpensüdseite, zwischen Engadin (nordwestlich) und Veltin (südöstlich) gelegen.
Die Lokalsprache Livignasc (die UNESCO stuft sie als vom Aussterben bedrohte eigenständige Sprache ein) ist Teil der Alpinlombardischen Sprache und steht dem Rätoromanischen des Engadins nahe (Film über die Dialekte). Man versteht sich verbal mit den Graubündnern (hier entstand ursprünglich der Begriff Kauderwelsch), kloppte sich in der Vergangenheit aber doch gerne mal mit ihnen. Zu groß waren die religiösen und mentalitätsbedingten Unterschiede. Inn heißt auf Rätoromanisch übrigens En, wovon sich Engiadina ableitet. Und für Livigno gibt es auch eine deutsche Bezeichnung: Luwin. Absolut ungebräuchlich, taucht jedoch in manchen sprachabhängigen Suchergebnissen wie z.B. bei Google auf.
Handeln musste man aber doch mit den Graubündnern (Grigioni), führte doch bereits zur Römerzeit eine wichtige Nord-Süd-Verbindung via Flüela – Spöl-Tal – Fraele-Pass nach Bormio, sowie die Via Imperiale als Ost-West-Verbindung von Como (Lombardei) nach Tirol hier durch.
Seit den 60er Jahren steht die Gallo-Furt unter Wasser, da die Engadiner Kraftwerke (EKW) einen Staudamm zur Gewinnung von Strom aus Wasserkraft gebaut haben (siehe Photogalerie). Mit der Flutung verschwand auch Livignos niedrigster Ortsteil im Wasser. Eine 1:1-Kopie der untergegangenen Kapelle steht übrigens am Kreisel am Seeufer. Die EKW bohrten sich für ihre Baufahrzeuge den Munt La Schera-Tunnel und überlassen diese Privatstraße heute für teures Geld den Touristen. Die Italiener ergänzten auf ihrer Seite mit der Straße entlang des Sees, die wegen der Lawinen mittlerweile fast gänzlich durch Galerien abgesichert ist. Sogar die Staatsgrenze (und somit die EU!) wurde verlegt, damit der eigentlich italienische Tunnelausgang gerade noch auf Schweizer Gebiet liegt. Die Grenze verläuft jetzt quer durch den Staudamm.
Anfangs entdeckten nur ein paar "spinnende" Pioniere (darunter viele Engländer und auch unser Vater) die Reize des Hochalpentales. Diese wenigen Skifahrer hatten gerade mal 1 Schlepplift, an der Kurve am Spöl startend und Richtung Mottolino hinauf, aber bereits unterhalb der Straße zum Eira-Pass endend (man sieht die Waldschneise heute noch).
Später eröffnete der Tunnel ganz neue Perspektiven. Livigno konnte aus Süddeutschland plötzlich mit einer Tagesreise erreicht werden, wenn auch noch sehr viel mühsamer als heute. In der Folge entwickelte sich das Dorf, nicht zuletzt auch wegen seines Zollfrei-Status, zu einem beliebten Wintersportort. Wer clever war, baute ein Hotel, quartierte seine Kühe um und verwandelte den Stall in einen Duty-Free-Shop oder in einen Skiverleih.
So wird jetzt aus dem Schnee das meiste Kapital geschlagen. Das Hochtal ist zwar wettergeschützt zwischen den Bergzügen eingebettet und und gilt mit durchschnittlich 700 mm Niederschlag als eher trocken (vergleichbar mit Stuttgart). Die errechnete durchschnittliche Jahrestemperatur von 1,7 Grad (Stuttgart: 9-10 Grad) mit durchschnittlch 5 Frostmonaten lässt von November bis April aber durchschnittlich 260 cm Schnee zusammenkommen. Und aus einem unerklärlichen Grund ist Livigno (im Gegensatz zum Veltlin) von einer Klimaerwärmung bislang verschont.
Die in der anfänglichen "Wildwestphase" entstandenen Infrastrukturprobleme wurden mittlerweile fast alle gelöst, zumindest aber erkannt. Heute versucht die Gemeinde, im Rahmen eines Masterplans für die gesamte Provinz, die Geister, die sie rief, wieder in den Griff zu bekommen. Das Wellnesscenter Aquagranda (so hieß der Spöl in alten Zeiten) wurde für die schneearme Zeit gebaut, kostenfreie Busse bemühen sich, das Verkehrschaos abzubauen (die Italiener lieben halt ihre macchina über alles). Und immer mehr motorisierte und unmotorisierte Biker lernen im Sommer die Reize der asphaltierten Passstraßen bzw. der grünen Alpentäler mit ihren "vergessenen" Militärstraßen kennen. Die Grenzkasernen braucht man auch nicht mehr und hat sie praktischerweise zu rifugios umgebaut.
Und wenn die Schweizer weiter Ärger mit dem Tunnel machen (Preiserhöhung, Sperrandrohung), bohren die Italiener vielleicht doch noch einen eigenen Tunnel Richtung Diavolezza, um sich mit diesem Skigebiet zusammen zu tun.
Mehr zur Livignos Geschichte kann man im MUS Museo di Livigno e Trepalle erfahren.
Geöffnet Do-So 15:00-19:00, Via Domenion 51/53 (in der Nähe von Silvestri Sport)
Mehr interessante Details über Livignos Geschichte im Reiseblog Altwerden kann ich später.
Literatur
e Vicende Moderne dal 25-09-1911 al 05-02-1990
Fondazione Centro studi "Nicolò Rusca", Gruppo Credito Valtellinese, MVSA Museo valtellinese di storia arte - Comune di Sondrio
a cura di Francesca Bormetti
edizione Biblioteca Civica Livigno
Livigno Villaggio Immobile
Uomini e ambienti di una valle alpina
Luca Bonardi
Famiglia Cooperativa di Consumo ed Agricola, Livigno 2001